Schaumal, der arme
Indianer
ICH NENNE IHN SCHAUMAL, weil er mir die Geschichte von Schaumal, dem armen
Indianer, erzählte. Es war ein typischer stürmischer Februarmorgen in
Boston. Der Verkehr staute sich, und die Fahrer starrten sich wütend an.
Jeder war unglücklich - das heißt, jeder außer Schaumal, meinem Taxifahrer.
„Ihnen scheint es nichts auszumachen, dass wir nicht vorwärts kommen",
sagte ich.
„Nein", sagte er sehr ruhig. Er deutete auf die Autoschlangen. „Wir können
nirgendwo hin. Warum also aufregen?" Er zündete sich eine Zigarette an,
nahm einen tiefen Zug und wandte sich mir zu.
„Nirgends, wo man hingehen kann", sagte er. Dann zeigte er auf den Verkehr
um uns. „Hier genauso." Er nahm einen Zug an der Zigarette. „Was ist der Sinn
davon, sich aufzuregen? Oder zu ärgern?" Er zuckte die Achseln. „Nichts
dran zu ändern. Trotzdem regen sich alle auf und kriegen Magengeschwüre."
„Vermutlich müssen sie irgendwo hin", sagte ich, während ich auf die Uhr schaute,
um ihn in Kenntnis zu setzen, dass auch ich zu einem Termin zu spät kommen würde.
„Geschäftstermine oder ein Flug oder sonst was."
„Ja, sicher", stimme er zu. „Deshalb sind sie im Taxi. Alle müssen irgendwo hin
außer dem Taxifahrer - er ist schon da. Nun sehen Sie sich diesen Typ an",
sagte er und zeigte auf einen gutgekleideten Herrn, der aus seinem Wagen
ausgestiegen war und zu einem Polizeibeamten redete, der hilflos
mitten im Verkehr stand. „Er bekommt fast einen Schlaganfall."
Wahrscheinlich kommt er zu spät zur Arbeit."
„Ich komme nie zu spät zur Arbeit. Ich bin pünktlich, sobald ich in
meinem Taxi sitze."
Wir beobachteten noch eine Weile, wie der Verkehrspolizist die
Fahrzeuge zu entwirren versuchte, und fuhren dann weiter.
„Sie sind anscheinend gern Taxifahrer", bemerkte ich.
„Möchte nichts anderes sein", erwiderte er.
„Haben sie etwas anderes probiert?" fragte ich.
Er nickte. „Alles mögliche. Ich war als Freiwilliger bei der Marine,
dann arbeitete ich im Büro, und eine Zeitlang war ich Bote bei einer
Börsenmaklerfirma. Aber jetzt habe ich genug von dem Zeug."
„Würden Sie nicht mehr Geld verdienen, wenn Sie etwas anderes täten?"
fragte ich.
„Sicher", gab er zu. „Wenn ich bei dem Börsenspekulanten geblieben wäre,
hätte ich sogar Millionär werden können. Wer weiß? Aber ich habe
keine Ambitionen."
„Jeder sollte Ambitionen haben", sagte ich zu ihm.
„Wieso?" fragte er.
Das war ich noch nie gefragt worden. Alle scheinen davon auszugehen,
dass Ambitionen nötig sind, genau wie man von anderen selbstverständlichen
Wahrheiten ausgeht.
„Wieso?" wiederholte ich. „Nun, jeder sollte Ambitionen haben, weil er sonst
nicht vorwärts kommt."
„So?" fragte er.
„So? Nun, dann können sie sich ein schönes Heim und gute Kleidung leisten,
etwas für ihre Familie tun. Sie wissen schon, vorankommen im Leben."
„Ich bin nicht verheiratet und habe keine Familie."
„Selbst dann sollten Sie vorwärts kommen wollen", sagte ich.
Und dann sagte er: „Es ist genau wie mit dem Indianer."
Ich war verdutzt. „Dem Indianer? Was ist wie mit dem Indianer?
Welchem Indianer?"
„Schaumal, der arme Indianer", antwortete er. „Ich werde Ihnen die
Geschichte erzählen." Er lehnte sich hinter dem Steuer zurück und begann.
„Da war dieser Indianer, der am Fluss saß und fischte. Ein Weißer kam
jeden Tag vorbei, und ganz gleich, wen er bei sich hatte, zeigte er immer auf
den Indianer und sagte zu seinem Freund: ,Schaumal, der arme Indianer. Und
dann eines Tages, als er allein war, ging er zu dem Indianer hin und redete mit
ihm. Was machst du da? fragte er. Ich fische, murrte der Indianer.
Das machst du ja immer nur, sagte der Weiße. Und der Indianer knurrte
nur. Da sagte der Weiße. Du solltest dir einen Job suchen und arbeiten.
Der Indianer fragte: Warum? Der Weiße sagte, dann wirst du viel Geld
verdienen. Der Indianer sagte, So? Der Weiße fuhr fort, dann kannst du
was investieren und wirst noch viel mehr Geld verdienen. Was glauben
Sie, hat der Indianer darauf geantwortet? Er sagte nur, So? Der Weiße wurde
wütend, So, wenn du reich bist, kannst du alles machen, was du willst.
Der Indianer sah den weißen Mann an, wandte sich dann wieder dem
Fischen zu und sagte, genau das mache ich gerade."
Der Taxifahrer lachte. „Schaumal, der arme Indianer." Er zog an seiner
Zigarette, warf sie dann hinaus. „Das bin ich."
Ich sann darüber nach. „Sie machen, was sie wollen?"
„Richtig."
„Und Sie sind zufrieden?"
„Richtig", sagte er. „Nehmen Sie mal den ganzen Verkehr da. Alle sind
unglücklich außer mir. Wieso? Weil sie nicht bei der Arbeit sind; sie
sind nicht, wo sie hinwollen, sie verlieren Zeit oder Geld oder sonst was.
Aber ich nicht. Sie müssen in der Kälte raus und durch den Schnee und
Matsch oder Regen gehen. Und ich sitze hier in einem schönen, warmen,
trockenen Taxi. Wissen Sie, wann ich aus diesem Taxi aussteige?"
„Nein, wann steigen Sie aus?"
„Wenn ich Lust dazu habe. Wenn ich Kaffee trinken oder etwas essen will
oder Lust habe, irgendwo hinzugehen und mit den Leuten zu sprechen.
Ich steige aus, wann ich will, nicht wenn ich irgendwo ankomme, wo ich
aussteigen muss, weil ich angekommen bin. Das Müssen ist Sache der
Fahrgäste, aber nicht für mich."
„Sie sind gut dran", sagte ich.
„Sie sagen es, mein Freund. Nehmen Sie das gute Wetter", fuhr er fort,
„im Sommer, Frühling oder sogar im Herbst, wenn die Blätter fallen und
sich färben. Was sagen die Leute, was sie an einem schönen Sonntagnachmittag
machen wollen? Sie wollen alle eine Spazierfahrt unternehmen,
stimmt's?"
„Eine Spazierfahrt aufs Land", stimmte ich zu. „Meine Tanten machten das
jeden Sonntag."
„Das Laub bewundern, am Wasser, im Park spazieren gehen, irgendwohin
fahren", sagte er. „Und nicht nur die älteren Leute. Was ist mit den Jungen?
Beobachten Sie jemals die Teenager und jungen Leute um die Zwanzig?
Was wollen sie denn außer herumfahren und sich umschauen?" Er zeigte
auf den Charles. „Im Sommer können Sie mich da am Fluss langfahren sehen,
mit offenen Fenstern. Und ich werde dafür bezahlt."
Als ich an meinem Fahrziel angekommen war, sprach er noch einmal. „Ich weiß
nicht, was Sie für Ihren Lebensunterhalt tun, Mister, aber was immer es ist, ich
hoffe, es gefällt Ihnen. Wenn nicht, wünsche ich Ihnen, dass Sie Millionär
werden, damit Sie tun können, was Sie wollen. Ich bin kein Millionär, aber
ich brauche das auch nicht, um zu tun, was ich will. Ich tue es
gerade jetzt."
Als er wegfuhr, sah ich ihm noch lange nach. Hier stand ich, wo ich nicht
sein wollte, im Begriff, in ein Gebäude zu gehen zu einer Verabredung mit
einem Mann, den ich nicht sehen wollte, und machte eine Arbeit, die
ich nicht tun wollte.
Schaumal, der arme Taxifahrer, sagte ich zu mir selbst
und ging an meine
Arbeit.