Zeitalter der
Manie?
Wenn eine
seelische Störung zum "modernen Lebensrhythmus" zu
werden droht
Wir
leben in einem Zeitalter, das "zunehmend an Fahrt gewinnt".
Sei es innerseelisch, zwischenmenschlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich,
sei es im Informations-
und Freizeitbereich usw. Überall beginnt sich
eine
spezifische Atmosphäre aufzubauen: Die einen nennen sie aktiv, dynamisch, kreativ,
innovativ, produktiv usw., die anderen finden sie eher unersättlich,
ruhelos, getrieben, hektisch und riskant.
Das andere aber ist die Frage: Kann es sein, dass unser
moderner Lebensrhythmus krankhafte Züge annimmt, nämlich die
einer
Manie? Was heißt das, was verstehen wir
darunter?
In einer immer unübersichtlicher werdenden
Welt neigen wir dazu, alles zu
klassifizieren und zu etikettieren. So hat man unser Zeitalter schon
als
das "Jahrhundert der Angst", zuvor als das "Jahrhundert der Depressionen"
apostrophiert.
Ob
wir wirklich unter mehr Angst und Depressionen zu leiden haben als
frühere Generationen, sei dahingestellt. Wer sich ein wenig in der
Geschichte auskennt, wird es bezweifeln. Aber eines scheint in der
Tat
unserer Epoche besonders am Herzen zu liegen: Aktivität, Energie,
Dynamik,
Mobilität, Kreativität, Produktivität, Leistungsfähigkeit und wie
derlei
Schlagworte heißen. Das Gegenteil: Depression, Angst, Verzagtheit,
Gemächlichkeit und selbst Besinnlichkeit, Ruhe und Gelassenheit sind
"out",
reizen sogar zu spöttischen Kommentaren. Das Alltagsleben wird
immer schneller und damit hektischer. Zeit wird zum Luxusgut.
(Während wir zu "Zeit-Sklaven" werden, die gleichzeitig
essen,
telefonieren, E-Mails tippen und im Fernsehen die Börsenkurse ver-
folgen, war im Athen und Rom der klassischen Antike gemächliche Bewegung
ein Status-Symbol
der oberen Schichten - und Eile eine Sklaven-
Eigenschaft)
Ist die
manische Lebensweise "in"?
So stellt sich die Frage:
Wird hier nicht eine fast manische Lebensweise
propagiert? Die positive
Seite liegt auf der Hand und wird gerne
akzeptiert: voller
Lebenslust, strahlender Laune und Wohlbehagen,
unbeschwert, humorvoll,
optimistisch, beschwingt, witzig, schlagfertig,
"happy", selbst- und
siegesbewusst bis selbstgefällig? Tausend Dinge
soll man unternehmen, je
riskanter, desto aufregender. Man spricht viel
und über alles mögliche, je
ungewöhnlicher, ja abwegiger, desto besser
(man achte nur auf
den Wortschatz, der immer häufiger Superlative
einspannt, die man bisher eigentlich nur der Pubertät vorbehalten
glaubte: super, riesig,
spitze, überhaupt nicht, mega-out, lässig, geil,
hammerhart usw.) Auch
gesteht man sich immer öfter eine "Dummheit" zu:
"Man gönnt sich ja
sonst nichts".
Man will viel Geld verdienen
und viel Geld ausgeben und nimmt deshalb eine
wachsende
Schuldenlast nicht mehr so tragisch - schließlich wird es einem
ja von "oben" vorgemacht: Es geht - wie lange, wird sich zeigen. Auch
"übertreibt man es nicht
mehr" mit Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, zumal
man sich auch hier von seiner Umwelt und von so
genannten Vorbildern diesbezüglich nicht mehr
verwöhnt sieht. (Gar nicht soweit entfernt davon, manche meinen sogar:
erst
im Schlepptau dieser
Negativ-Entwicklung würden auch Neid, Missgunst und
Eifersucht gefördert;
zumindest würde ein ehrliches, aufrichtiges und
wohlwollendes
Lob, wenn nicht "strategisch missbraucht", langsam zur
Mangelware.)
Man steht in ständigem
Kontakt mit anderen, wozu sich das Telefon im
Allgemeinen und das Handy im
Speziellen ideal anbietet - manchmal bis
zur Telefonsucht
(gelegentlich auch als "Handy-Manie" bezeichnet, hier
deutet sich schon eine Verbindung zu unserem
Thema an).
Man konsumiert pausenlos
Musik, vom Radiowecker angefangen über die psy-
chologisch ausgeklügelte Musikberieselung der Kaufhäuser bis zu den hör-
schädigenden Lautstärken der Rundum-Beschallung in der Freizeit, sei es in
Diskotheken, ja zu Hause
oder im eigenen Auto - mit überdimensionierten
Lautsprechern, die Bässe bis
an das andere Straßenende dröhnend. Am Wo-
chenende stürzen
sich Millionen Jugendlicher freiwillig in ein Inferno
ohrenbetäubender Musik aus Lautsprechern,
groß wie ein Auto, in rasende
Rhythmen und Lichtblitze mit einer Million Watt, und
das alles bei einer
Raumtemperatur bis zu 65°C: die Techno-Partys.
Sogar die Kultur überhastet sich, so als hätte sie es nötig, beim gängigen
"Konsum-Wahnsinn" nicht mithalten zu können: Jedes Land, jede Stadt, jede
Gemeinde, jeder Verein, jede
Institution ist dabei: Als gelte es die
triste Realität zu vertreiben, jagt ein Ereignis
(natürlich "Event" genannt) das
andere.
Nicht nur Kaufhäuser, die
Gastronomie und die wirtschaftlichen Anbieter
aller möglichen Offerten,
nein: Galerien, Museen, Institute, Vereine,
Interessengemeinschaften
jeglicher Art, ja sogar Behörden und Schulen
reißen geradezu
wechselseitig das Interesse der Öffentlichkeit an sich.
Das wäre
im Grunde nicht negativ, wenn es sich um einen guten Zweck
handelte. Negativ ist auf
jeden Fall die Not, ja der Zwang zum "Überschreien",
was es nebenbei auch
"lautlos" gibt.
Und natürlich auch hier ein
regelrechtes "Zappen durch die Lokalisationen"
in hektischer
Betriebsamkeit. Manchmal sogar mit einem sonst "unfassbaren
Massen-Schieben" durch die
Örtlichkeiten, ein "Event-Hopping", wie man das
heute bereits abschätzig
nennt. Denn man muss ja dabei gewesen sein, kann
es aber nirgends länger
aushalten, wenn nichts Neues zum längeren "Abla-
chen" lockt,
die nächsten Stationen warten schon.
Und da es in der Regel
nichts umsonst gibt, baut sich das "Event-Hopping"
zu einem "Event-Shopping"
aus - kostspielig, wie man erst später zu merken
pflegt. Kurz: Nicht nur der Kommerz, auch die
Kultur ist inzwischen voll
auf dem Trip.
Die
Medien
Man könnte aus Hunderten von
Zeitschriften, Magazinen und Zeitungen und
unter Tausenden von Büchern,
Platten, CDs usw. wählen. Man sieht stunden-
lang auf
mindestens 2 Dutzend Kanälen fern und "zappt" von einem Sender
zum anderen, um an einem Abend mehrere Spielfilme, Nachrichten, Doku-
mentationen, Interviews, Diskussionsrunden, Shows usw. in sich
"reingesaugt" zu haben, die jede für sich allein den ganzen Abend gefüllt
hätten:
gleichsam eine wundersame Vermehrung der Aufnahmefähigkeit,
nur mit den bekannten Folgen, dass man sich am Schluss an nichts mehr
erinnern kann - es sei denn,
es
war besonders schockierend.
Um nur beim Fernsehen zu
bleiben: Wer nur einmal die rein optische Belas-
tung durch einen Fernseh-Abend testen will, der stelle sich außen vor ein
Fenster, hinter dem ein normales Programm abläuft, vom ständigen Umschal-
ten ganz zu schweigen. Dann wird er sich wundern, welch pausenlosen
Helligkeits-Wechsel Augen und vor allem das Gehirn verkraften müssen.
Da man sich auf den Inhalt konzentriert, wird einem das nicht so sehr bewusst -
den
Gehirnstrukturen aber, die ja die Belastungen speichern müssen, sehr
wohl.
Außerdem die berechtigte Klage der Experten: "Fernsehen macht dumm, dick,
depressiv und gewalttätig", wenn man es einmal - zeitgemäß - auf die vier
riskantesten gesellschaftlichen Schwachstellen unserer Zeit bringen will.
Unsere Gehirnzellen sind zwar flexibel und lernfähig, und das bis in hohe
Alter - aber man muss sie auch trainieren. Fernsehen aber trainiert nicht,
im Gegenteil, es lähmt. Dies betrifft besonders die
empfindlichsten Teile unserer
Gesellschaft, die Kinder (die man gerne fernsehen lässt, nicht zuletzt
um sie ruhig zu stellen).
Wenn Kinder zwischen dem 1.
und 3. Lebensjahr viel fernsehen, drohen vor
allem Aufmerksamkeits-Störungen. Die sich entwickelnden Nervenzellen
bleiben unterstimuliert. Denn flüchtige Bilder hinterlassen nur flüchtige
Anreize zur Entwicklung. Und deshalb macht viel fernsehen nicht klug,
sondern
stumpf, ja dumm und immer häufiger auch resigniert-deprimiert.
Und da beim Fernse
hen in der Regel gesessen und gegessen wird,macht es außerdem dick - ein Teufelskreis. Zuletzt ist das Gewaltpotential in vielen
Filmen für die eigene Gewaltbereitschaft, zumindest aber unterschwellige Aggressivität
sicher kein Neutralisations-Faktor - im
Gegenteil.
Außerdem: Wem der Abend
nicht reicht, dem stehen inzwischen Nachtzeit und
Vormittag zur Verfügung:
Late-Night-Shows, Mitternachtsmagazine und Früh-
stücksfernsehen haben das
nächtliche Testbild abgelöst (was Kritikern
nicht unbedingt als
Fortschritt erscheint).
Und zuletzt, um das sicher nicht unbegründete
„Pisa-Unbehagen"
aufzugreifen:
In aller Regel sieht man schon als Kleinkind
fern, bevor man auch nur eine
Zeile zu lesen gelernt hat, was man dann in einer wachsenden Zahl von Betrof-
fenen auch
nicht mehr richtig lernen wird. Das hat natürlich auch
Auswirkungen auf die Rechtschreibung, was man inzwischen überall
registrieren muss, verständigt sich doch die neue Generation zwar blitzschnell
elektronisch, aber orthographisch gesehen mehr und mehr "lautmalerisch".
Und was das Internet
anbelangt, so ist es zwar das Medium der Zukunft und
seine Vorteile sind
unbestritten - seine Nachteile aber auch, da muss man
noch nicht einmal die
Internet-Sucht bemühen. Erwachsene sollten wissen,
was sie tun. Aber kann man
das schon von Jugendlichen und Kindern
verlangen? Surfen, spielen
und chatten (also das virtuelle Plaudern in so
genannten Chattrooms) sind
"in". Jeder zweite Jugendliche (man spricht
sogar davon, dass es bald
jedes zweite Kind sein soll) ist heute online,
wobei die größte Gefahr
womöglich nicht einmal von den zahlreichen
unkontrollierten
"Schmuddelseiten" mit Sex, Gewalt und Rassismus ausgeht
(das kann ein gesundes Kind
schon bald ausreichend gut unterscheiden und
aussondern), sondern das Surfen ohne Ende.
Die Genussgifte
Doch zurück zu den Erwachsenen: So trinkt man beispielsweise immer mehr
Alkohol (mit
unterschiedlichen Variationen, was Wein, Bier, Hochprozentiges
u. a. anbelangt), wobei sich
der Schwerpunkt vom Genuss-Trinken über den
"gesellschaftlichen
Trinkzwang" zum Selbstbehandlungs-Versuch mit Alkohol
zu verschieben droht,
gleichsam als "abschottendes" Hilfsmittel, d. h. als
Ab- schalt- und zuletzt
Einschlaf-Hilfe. (Ganz zu schweigen von dem
widerlichen Wett-Trinken
mancher Kreise, dort auch als so genanntes
"Koma-Saufen" bezeichnet;
sogar das Übergeben wird schon zu
Wettkampfzwecken genutzt: "Wett-Kotzen".)
Und man raucht und
raucht. Die Erwachsenen beginnen zwar das Risiko zu be-
greifen, dafür rauchen immer
mehr Jugendliche und hier tragischerweise vor
allem die Mädchen, die bei
dieser gesundheitsschädigenden Konsum-Art ge-
schlechtsspezifisch auch
noch die schlechteren Karten haben, was die Lang-
zeit-Folgen anbelangt. Dabei
lässt man sich von einer psychologisch raf-
finierten Werbung
manipulieren, unbemerkt, obgleich man doch ansonsten so
stolz
auf seine kritische Einstellung und Selbständigkeit ist. Selbst die
gesetzlichen Werbe-Einschränkungen und Warnhinweise,
die es nicht an Deutlichkeit
zu wünschen übrig lassen, werden einfach
bewusst/unbewusst ausgeblendet.
Und wenn die Rauschdrogen
zwar etwas an Boden verloren haben (sollen), so
probiert man doch selbst als
Nicht-Abhängiger gelegentlich "einen Joint".
In manchen "Schul-Ecken"
riecht es geradezu permanent und penetrant nach
"aromatisch verbrannten
Stricken", was für jeden Eingeweihten ein
untrüglicher Beweis ist,
immer mehr Verantwortliche aber resignierend
wegschauen bzw. weg-riechen
lässt. Ein besonders Problem bleiben die
gefährlich verharmlosten,
weil unkalkulierbaren Designerdrogen aus dubiosen
Quellen, über deren Folgen nicht einmal die kriminellen Hersteller Auskunft
geben könnten, weil sie ständig auf der Flucht sind vor den Behörden
und "ihre Produkte" chemisch dauernd (juristisch hinausschiebend)
ändern müssen.
Reisen in ferne
Länder
Dass man immer mehr reist,
ist schon ein halbes Jahrhundert die Regel und
auch
nichts Verwerfliches. Dass es immer häufiger die fernsten Länder sein
müssen mit Risiken für alle Beteiligten (Betroffene, Angehörige,
Mitreisende, Organisatoren, Ärzte und Behörden) mag noch nicht
ausdiskutiert sein. Was aber immer mehr einreißt ist ein wachsender
Gefahren-Tourismus mit garantiertem Nervenkitzel. Jeder betont zwar
lautstark, dass es sich hier um seine eigene Entscheidung und sein eigenes
Risiko handle, nimmt aber mit anmaßender Selbstverständlichkeit an, dass
sich - wo auch immer, in der Luft, auf
der
Erde, auf dem Wasser oder darunter - die Retter nicht nur finanziell
aufwendig und natürlich auf Kosten der Allgemeinheit, sondern ggf. sogar
noch (lebens-)gefährlich auf den Weg machen, um sie aus ihrer
selbstverschuldeten
(Einige Unverfrorene beklagen sich dann auch noch öffentlich über
die "verspäteten oder unzureichenden Hilfsmaßnahmen".)
Dazu betreibt man möglichst mehrere Sportarten auf einmal, ohne wenigstens
anzutesten, ob man dafür
geeignet ist, insbesondere was Alter und
Kondition anbelangt. Und
vielleicht noch Leistungssport - und auch das
möglichst ohne
professionelles Training und deshalb mit entsprechenden
Gesundheitsrisiken, obwohl
die wachsende Zahl von Sportverletzungen längst
die Respektierung der
eigenen Leistungsgrenzen anmahnt
(vor allem wenn man auch sonst nichts oder nur wenig für seine Gesundheit
zu tun bereit ist außer „Protz-Sport").
Modernes
Risiko-Verhalten
Überhaupt gewinnt das
Risiko-Verhalten einen geradezu zwanghaften Stellen-
wert, zumindest bei der
jüngeren Bevölkerung: "sportliches" oder gar
riskantes Autofahren (vom
üblichen Bedrängen ruhigerer Verkehrsteilnehmer
ganz zu schweigen), z. B.
Rasen im Nebel (in einer klaren Nacht wird man
sich vielleicht sagen
müssen: "der hat eben gute Augen", aber im
Nebel...),
wissentlich unter Alkoholeinfluss, mit überhöhter
Geschwindigkeit
bis hin zum mehrspurigen Wettrennen, teils in abgesperrtem Gelände oder gar einen
ahnungslosen und hilflos überraschten
Gegenverkehr in Kauf nehmend
("lieber tot als langsam").
Ganz zu schweigen von einer
wachsenden Zahl von Risiko-Sportarten, die man
fast nicht mehr überblicken kann, weil man auf solch absurde Ideen
normalerweise gar nicht
kommt. Natürlich füttert das entsprechende
Industriezweige und die
jeweiligen Funktionäre sind mit wohlfeilen Begründungen
rasch zur Stelle, obgleich gerade sie am besten wissen müssten,
auf was sie sich und andere einlassen (was wenigstens im privaten Gespräch den
verantwortlichen Trainern - Original-Zitat - "ständig den kalten Angstschweiß auf
die Stirn treibt" - nicht zuletzt juristisch).
Dabei ist das kriminelle
Risikoverhalten durch "Bus-, S- oder
U-Bahn-Surfen" (sich wie ein
Surfer außen am Fahrzeug festklammern), das
Sich-Anhängen an Lastwagen
und Busse durch Rollerskatefahrer oder gar das
bewusste "Geisterfahren" auf
der Autobahn in Gegenrichtung gar nicht
diskutierbar (Gipfel des
absurden "Sports" zum Entsetzen der Lokführer:
sich zwischen den
Schienen
auf das Gleis klammern, wenn
dort so genannte Zugleitungskabel Halt zu ge-
ben scheinen, um sich von (schnellen) IC- und ICE-Zügen ("und zwar nur von
denen") überrollen zu lassen...).
Beruf und Freizeit
Doch zurück zum Alltag: Auch
der hält ja genügend gängige, wenngleich
zweifellos oft suspekte
Verhaltensweisen bereit, die zum Nachdenken
zwingen: Unser Wohlstand basiert nicht zuletzt auf unserem Fleiß.
Viele Menschen sind jedoch regelrechte "Arbeitstiere" geworden, "workoholics", wie
man es heute nennt:
energiegeladen, aktiv, dynamisch, innovativ, produktiv -
wir kennen diese Stichworte
schon -, in Wirklichkeit ruhelos, getrieben,
nicht arbeitsam, sondern
inzwischen arbeitssüchtig, mit regelrechten
Entzugserscheinungen in der
Freizeit, die deshalb entsprechend
umfunktioniert werden muss.
Aber auch für sich
genommen bedeutet Freizeit (die man längst nicht mehr
mit "Freiheit" gleichsetzen
kann) oftmals keine Erholung mehr, sondern
immer häufiger gezielte (und
vor allem manipulierte?) Aktivität: ständig
nach Neuigkeiten Ausschau
halten, prüfen, vergleichen, einkaufen,
anschaffen, ausprobieren,
umtauschen, nutzen, weglegen, vergessen. Die
Mode eilt der jeweiligen
Saison immer weiter voraus. Das Rad dreht sich
immer schneller. Eines Tages
wird sie sich alles selber überholen oder
konkreter: überschlagen.
Sogar die Brauchtümer und
Feste werden immer früher verbrauchsorientiert
vorangekündigt - und damit
letztlich verschlissen: Weihnachten, Neujahr,
Fastnacht, Ostern usw. Das
Leben scheint sich nur noch Monate zuvor im
"Vorgriff" abzuspielen. Das heißt:
Das Heute ist bereits
"Schnee von gestern", weil das Morgen schon an die
Tür klopft. Die Freude am
Hier und Jetzt ist dem ständigen Aufbruch
gewichen. Die Menschen
halten nicht mehr inne, sie starten gleichsam
permanent durch. Das dient
dem Konsumverhalten und damit der Wirtschaft,
schädigt aber gleichzeitig
die Grundlage dieses Systems, nämlich den
Konsumenten als Menschen.
Und was macht der derart
verschlissene Konsument, wenn er sich schließlich
seelisch, geistig und
körperlich regenerieren will bzw. muss? Er tut auch
dies inzwischen
"dynamisiert", eingebunden in spezielle Programme,
gestaffelt nach
Entspannungsvermögen und Erholungskapazität. Selbst beim
regenerierenden,
empfehlenswerten, in Maßen betriebenen sinnvollen
Freizeitsport das
gleiche Bild: Möglichst aktiv und bis zur Belastungsgrenze,
gleichsam sich hartnäckig und verbohrt auf der Überholspur festkrallend,
um seine Leistungsfähigkeit zu testen, von den erwähnten riskanteren
Sportarten ganz zu schweigen.
Und selbst diejenigen,
die sich freiwillig körperlich kaum noch bewegen,
setzen sich fortwährend
intensiver Stimulation durch die Massenmedien, durch
Tele-und Computerspiele aus
und konsumieren dabei antriebs-
und stimmungssteigernde Genussmittel und kalorienreiche
Zwischenmahlzeiten.
Informationszwang ohne Effekt
Auch in
der reinen Informationsaufnahme dreht sich das Karussell immer
schneller: Eine Flut von Nachrichten auf Dutzenden von Sendern und Kanälen
von Funk und Fernsehen, von der Masse der Printmedien ganz zu schweigen,
die in monatlichem,
wöchentlichem oder täglichem Wechsel inzwischen ganze
Regale füllen - grell sich
überschreiend, mit aufreizenden Bildern und
balkengroßen Überschriften.
Jede Ausgabe muss erneut zugkräftig und
damit spektakulär sein, und
zwar noch um eine Drehung sensationeller als
die vorangegangene. "Nur
eine schlechte Nachricht ist eine gute
Nachricht", heißt es,
wobei Zeitungen, die nur Positives bringen wollten,
nach kurzer
Zeit eingegangen seien.
Die Konkurrenz ist beinhart.
Um diese Grundregel mit ihrer gnadenlosen
Konsequenz durchhalten zu
können, durchkämmt man inzwischen die hin-
tersten Winkel der ganzen
Erde, um dann das Ergebnis - man achte einmal
auf den im wahrsten Sinne
des Wortes aufreizenden, zumindest aber
anheizenden Tonfall mancher
Nachrichtensprecher -, das Ergebnis in
Lichtgeschwindigkeit um den ganzen Globus zu
jagen.
Wir schütteln die Köpfe über
das, was geschieht - langweilen uns aber auch
bereits,
wenn das Niveau des Entsetzens etwas abzufallen droht. "Stand
etwas in der Zeitung, kam was in den Nachrichten?" Und wenn es heißt: "nichts
Besonderes", dann kann man
den gelangweilten oder gar missbilligenden Ton
schon fast heraushören. Kein
Wunder, dass sich manche Reporter bestätigt
fühlen, selbst wenn sie
durch ihre aufdringliche Berichterstattung vor Ort
die Sicherheitskräfte
behindern oder hilflose Opfer in Gefahr bringen
(z. B. Geiselnahme): "Die
Leute wollen das", heißt es dann. Es ist eine
"Spirale des
Wahnsinns" (Zitat eines Reporters - privat).
Der moderne Mensch verkürzt
seinen Schlafbedarf
Das alles kostet natürlich
Kraft, Energie, Reserven, zumal man auch den
Schlaf auf das Notwendigste
reduziert. Man sagt, dass unsere Generation
bereits eine
Stunde wenn nicht mehr pro Nacht weniger schläft als unsere
Vorfahren (die nebenbei vermutlich auch noch weniger unnötigen Stress zu
verkraften hatten). Man
schaue sich nur einmal um, welcher Verkehr sich
auf unseren Straßen zur
nächtlichen Stunde abspielt, vor allem Freitag und
Samstag nachts (registrieren
die in dieser Hinsicht aus nachvollziehbaren
Gründen am besten
informierten Taxifahrer). Das ist keinesfalls nur
Lastverkehr, Spät- und
Nachtschicht. Das ist eine freizeit-orientierte
Tag-Nacht-Umkehr -
mit allen seelischen, psychosozialen und körperlichen
Folgen.
Gerade das fortlaufende
Schlaf-Defizit - so die Experten - aber muss
irgendwann einmal beglichen
werden, vielleicht nicht in Jugend und
"besten Jahren", wohl aber
spätestens im Rückbildungsalter, wo man ohnehin
auf dünneres Eis zu
geraten pflegt. Das ist eine allseits bekannte Erkenntnis
was körperliche, meist Unfall- und sonstige Verletzungsfolgen anbelangt,
viel zu wenig aber bekannt was den heimlichen Verschleiß auf psychophysischer
Ebene betrifft.
Und hier gehören ausreichender Erholungsschlaf bzw. langfristig
zermürbendes Schlaf-Defizit
zu den wichtigsten positiven oder negativen
Langzeit-Faktoren.
Doch der Mensch in unserer
Nonstop-Gesellschaft ist und bleibt mobil - und
leugnet inzwischen eben auch
den naturgegebenen Unterschied zwischen Tag
und Nacht. Und wenn sich der
Schlaf dann nicht mehr pünktlich einzustellen
vermag, beim einen früher,
beim anderen später, dann versucht man ihn mit
Alkohol oder Medikamenten zu
erzwingen. Und wenn anderentags die Kon-
zentration nachlässt, trinkt
man Kaffee, Schwarztee und Cola-Getränke oder
nimmt Weckmittel. Und wenn
sich schließlich ein nicht mehr korrigierbarer
seelisch-körperlicher
Erschöpfungszustand abzuzeichnen beginnt, ist man
fassungslos und sucht -
vergeblich, wie man immer wieder treuherzig versi-
chert -, nach Ursachen, die
man sich aber in Wirklichkeit selber
zuzuschreiben hat, zumal die
eigentlichen Gründe auf der Hand liegen.
Wachsende
Aggressivität, ein kennzeichnendes Merkmal unserer Zeit
und Gesellschaft?
Und dann der aggressive Ton
in unserer Zeit. Hier ist zwar nicht der Ort,
sich darüber auszubreiten. Aber jeder weiß
und spürt: Der Aggressionspegel
steigt
- im Straßenverkehr, am Arbeitsplatz, in der
Schule, ja im Vereinsleben
und in der Familie. Und im Gefolge davon auch die Gewaltbereitschaft.
Letztere wird zwar von allen beklagt, interessanterweise aber auch schon
von den kommenden Generationen, zumindest der Mehrzahl der Jugendlichen
fast akzeptiert, gleichsam im Sinne von "Gewalt schafft
wenigstens klare
Verhältnisse".
Da sieht schon die
Alltags-Zukunft düster aus, auch ohne individuellen -
man denke nur an die
wachsende Zahl von Amoktätern -, politisch
motivierten oder
militärischen Terror.
Einige psychologische Erklärungsversuche
Natürlich sind
die Beweggründe aller dieser Phänomene vielschichtig; und
das ist bei weitem noch
nicht alles, was uns nachdenklich machen sollte. Und
sie lassen sich auch nicht
auf einen gemeinsamen Nenner zwingen. Doch was
die tiefere, psychologisch
interpretierbare Bedeutung anbelangt, so seien
doch einige Überlegungen kurz
zusammengefasst:
Ein den meisten gar nicht
bewusster, in Wirklichkeit aber überaus bedeut-
samer Faktor ist die
Erfüllung narzisstischer Wünsche, d. h. Besonderes zu
leisten und zu erleben sowie
das Gefühl des Unalltäglichen und der
Einmaligkeit zu genießen.
Ferner der bereits erwähnte Wunsch, Gefahren zu bestehen
und dabei die eigenen Fähigkeiten und Kräfte zu erleben bzw. bis an ihre
Grenzen auszutesten (vor
allem bei mangelnder natürlicher Herausforderung
im modernen Alltags-Trott).
Nicht zu vergessen das Ausleben aggressiver
Impulse mit gefährlichen
Instrumenten (z. B. Motorfahrzeuge, aber auch
risikoreiche Umgebung). Dazu
die Verleugnung der realen Gefahren,
einschließlich autoaggressiver, d. h.
selbstzerstörerischer Regungen.
Interessant ist auch das
psychologisch komplexe Phänomen des so genannten
"kontraphobischen
Ausagierens". Es lässt sich in etwa mit dem Satz
erklären: "Wenn ich solche Gefahren
überstehe, können mir die alltäglichen
Gefahren
des Lebens nichts (mehr) anhaben". Das ist eine gar nicht so seltene
Einstellung von
Angst-Patienten, die ihre Angstkrankheit mit
Ängstlichkeit verwechseln,
also meinen ein "Angsthase" zu sein und dies
überkompensatorisch neutralisieren zu müssen.
Und zum Schluss die
Sucht-Komponente in unserem Verhalten, die natürlich
nicht nur mit Genussgiften
und Rauschdrogen befriedigt, sondern durch eine
immer buntere
Angebotspalette nicht-substanzgebundener Süchte ergänzt
wird, charakterisiert durch
Schlagworte wie "Reizhunger", "Thrill",
"Kick",
"Geschwindigkeitsrausch" usw. In Medizinerkreisen wird dieses
Phänomen als
"Adrenalin-Sucht" beschrieben (Adrenalin ist ein Hormon des
Nebennierenmarks, das u. a. zur Aktivierung des Herz-Kreislaufsystems
führt).
Fazit
Wir sprechen zwar vom
Zeitalter der Angst oder der Depression, leben
jedoch in Wirklichkeit
ein fast manisches Dasein. Vielleicht sollte man deshalb
besser vom Zeitalter
der Manie sprechen: aktiv, dynamisch, energiegeladen,
kreativ, produktiv, aber
auch ruhelos, getrieben was den Lebensstil
anbelangt, vom Geistigen bis
zum Körperlichen, von der Arbeit bis zur
Freizeit.
Das verdichtet sich
bezeichnenderweise in dem fast schon klassischen Aus-
spruch der Jugend, den man
nicht unterschätzen sollte: "Viel Action, viele
Menschen (= Freunde)
treffen, viel Spaß haben - und um Gottes Willen
sich nicht
langweilen ..."
Oder noch kürzer: "Ich - alles - sofort - Spaß!"